Religion und Leiblichkeit

In der christlichen Tradition wurde der Leib oft abgewertet – zu Unrecht, wie uns die sinnlichen Liebeslieder (im Hohelied) im Alten Testament zeigen. Heute haben viele Menschen ein eher funktionales als ein freundschaftlich-vertrautes Verhältnis zu ihrem Leib. Hinzu kommt oft Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Dabei ist der Leib lebenslang unsere “Wohnung”, ja Teil unseres Selbst. Sinneswahrnehmungen, Gefühle und Körperempfindungen etwa sind untrennbar verbunden. Wie wir uns in unserem Leib – oder besser: als unser Leib fühlen – ist ein wichtiger Teil unserer Ausstrahlung. Ein gutes Leibgefühl wirkt sich günstig auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen aus.

Ich wünschte mir, dass die christliche Rede über den Leib nicht länger abwertend geschieht, sondern eine Hochschätzung zum Ausdruck bringt, wie sie in dem Pauluswort “wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist?” (1. Kor 6,19) zum Ausdruck kommt. Dass dabei Erotik und Sexualität nicht aus- sondern eingeschlossen ist, versteht sich von selbst:

“Erotik ist ein Akt der Kommunikation, ja der Kommunion: Es ereignet sich etwas von Gott, und dieses Eingehen Gottes in das fleischliche Leben lässt sich durchaus Gnade nennen. Gnade ist, im Gegenüber, im Du einen Überschuss an Lebenssinn, Lust und Hoffnung wahrzunehmen. Gerade in der Lust zwischen zwei Menschen kann Gott erkannt, geliebt und gefeiert werden. Sexualität kann religiös interpretiert werden, ist aber auch ohne religiöse Symbolik erlebbar und gestaltbar. Doch im Bewusstsein einer tieferen Sinnhaftigkeit wird sie von Religion berührt, bewusst oder unbewusst. Umgekehrt kann auch die Erotik der Religion eine neue Sinnlichkeit geben. Die Religion gleicht in unseren Breitengraden oft einem ausgetrockneten Gelände, beackert von … Gläubigen mit verbitterten Mienen und versteinerten Gesten. Doch Lust ist bekanntlich nicht trocken, sie könnte eine Lebensader in den verkrusteten Boden der christlichen Religion treiben. Ihre blutarme Rede von der Liebe dürfte so an Kraft und Wahrhaftigkeit gewinnen.”

Thiele, Johannes, Verflucht sinnlich, 16

Im Wahrnehmen des Hier und Jetzt, im “Sakrament des Augenblicks” (David Steindlrast), wo wir ganz da sind, berühren sich die Gegenwart Gottes (Mystik) und Eros.