Nachgeburtliche Traumata

Anmerkung zur Traumatherapie: die Einführung und wie ich mit - auch frühkindlichen - Traumata arbeite, können Sie hier nachlesen.

Wenn Eltern nicht verstehen, was für die seelische Entwicklung ihres Kindes wichtig ist, reagieren sie leicht unangemessen. Dies kann (wenn es immer wieder geschieht) das Kind verletzen und seine gute Entwicklung behindern. Ein sog. Entwicklungstrauma (Bessel A. van der Kolk) kann entstehen. Im Unterschied zu einem Schockttrauma, das durch ein plötzliches Ereignis entsteht, dauert es beim Entwicklungstrauma Monate und Jahre.

Traumata direkt nach der Geburt

Vor allem die erste Stunde nach der Geburt ist für die Entwicklung der gesunden Mutter-Kind-Bindung ( Bonding ) von entscheidender Bedeutung. Dies gilt - abgeschwächt - auch für den Vater. Eine ungestörte, intime Atmosphäre sowie direkter Hautkontakt helfen, eine tiefe seelisch-körperliche (Oxytocin und andere Hormone) Verbundenheit zu stiften.

Störungen oder Trennung von Mutter und Kind in dieser sensiblen Phase können Irritationen, Unsicherheiten in die Mutter-Kind-Beziehung einbringen, die sich gegenseitig aufschaukeln können bis hin zur Ablehnung. Das Kind kann dann in tiefe Verzweiflung und Panik geraten.

Traumata im Säuglingsalter

Damit deutlich wird, welche Erfahrungen für Säuglinge traumatisierend sein können, habe ich hier einige Informationen zur frühkindlichen Entwicklung aufgeführt:

Wie Rüdiger Posth Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen: Das Bindungskonzept in der emotionalen und psychosozialen Entwicklung des Kindes ; Waxmann, Münster/New York/München/Berlin 2007 darlegt, wird das Schreien des Säuglings oft falsch verstanden. Er unterscheidet die Schreiformen Ärger- / Wutschrei, Signal- /Notschrei (Geburt, Hunger, Durst, nasse Windel), den Urangstschrei (Unheimlichkeit, Stimmungsangst; falls Bezugspersonen auf die vorigen Schreiformen nicht oder nicht angemessen reagieren, steigert sich das Kind in diese Angst hinein). Ein Säugling ist zur eigenen Gefühlsregulation (Selbstberuhigung) nicht in der Lage, er braucht dazu eine einfühlsame Bezugsperson (Mutter / Vater). Gelingt die Beruhigung, wird als “Ko-Regulation” bezeichnet.

Das Schreienlassen führt nicht zur Beruhigung, sondern zu vermehrtem Schreien, allenfalls zur völligen physischen Erschöpfung, allerdings mit fatalen seelischen Folgen:

“Es ist … mindestens ein sehr hohes Risiko, seinen kleinen, auf die Eltern und Bezugspersonen extrem angewiesenen Säugling schreien, was soviel heißt wie leiden zu lassen. Neben der akuten Vernachlässigung der realen Bedürfnisse, die per se nicht gesund sein kann, ist es ein Risiko auch deswegen, weil die im Säugling kumulierenden Angstgefühle durch seine Unfähigkeit, innere Spannungen zu bewältigen, verdrängt werden müssen und dadurch das Unterbewusstsein zunehmend belasten. Dort könnten sie dann leicht zu einer Hypothek für das spätere Leben werden. Eine Gefahr ist das Schreienlassen auch deswegen, weil die inneren Ordnungsstrukturen im Säuglingsgehirn durch Synapsenentstehung, -gestaltung und Synapsenreduktion behindert werden… und möglicherweise sogar dauerhaft geschädigt werden können.”

(Posth, aaO, 67)

Die Angstzustände prägen sich also immer tiefer ins Gehirn ein, es entsteht eine Traumatisierung mit einer erhöhten Anfälligkeit für Ängste, sowie eine rasche Erschöpfbarkeit.

Er reicht nicht, die Hand des Säuglings zu halten, er muss hochgenommen, herumgetragen, evtl. gestillt / gefüttert werden sowie einfühlsam angesprochen werden.

“Die Befriedigung von basalen Bedürfnissen des Säuglings ist… ein wichtiges Prinzip zur Herstellung einer soliden und damit sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind”

(aaO, 97).

Das in seinen Bedürfnissen und Gefühlen gesehene und Kind entwickelt mit Hilfe der Mutter zunächst ein “Leih-selbst”. Durch Einfühlsamkeit “spiegelt” die Mutter dem Kind zurück, wie sie es (verstehend) wahrnimmt und hilft ihm, so, auch schwierige Gefühle zu regulieren.

Diese Ko-Regulation der Gefühle durch die Bezugsperson gelingt freilich deswegen oft nicht, weil diese selbst traumatisiert und damit emotional überfordert ist:

“Vielfach untersucht und beschrieben ist die Tatsache, dass depressiv gestimmte Mütter große Schwierigkeiten haben, den wichtigen mimischen, stimmlichen und körperlichen Kontakt zu ihrem Säugling in ausreichender Form herzustellen, was im Einzelfall zu Bindungsstörungen führen kann. In solchen Fällen ist eine psychologische … Behandlung … unbedingt erforderlich. Wer selbst als Kind emotional vernachlässigt war, dem mangelt es an inneren Ressourcen, so dass schon die normalen Ansprüche des Säuglings als unangemessene Forderung empfunden werden.”

(aaO, 98)

Das Kleinkind als Tyrann?

Manchmal fühlen Eltern sich von ihrem Säugling tyrannisiert. Dies ist gefühlsmäßig nachvollziehbar (besonders bei Überforderung . Doch unterstellt “Tyrannisierung” absichtsvolles Handeln, dazu ist der Säugling noch nicht in der Lage! Die Rede vom “kleinen Tyrannen” ist im Kleinkindalter (bis 1 1/2 oder 2 Jahren) eine tragische Fehldeutung. Eltern fühlen sich dann persönlich “angegriffen” (sie meinen es ja gut), wenn das Kind trotzt. Sie reagieren evtl. schimpfend, strafend, ablehnend, wütend, was bis zur Misshandlung des Kindes führen kann.

Ein Zitat, wie es zur Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern kommen kann: Eine Mutter, die ihr Kind viel geschlagen hatte, sagte:

“Ich habe nie in meinem Leben Liebe gefühlt. Als das Baby geboren war, dachte ich, es würde mich lieben. Als es schrie, bedeutete dies für mich, es liebt mich nicht. Darum schlug ich es.”

Häsing, 239.

Diese Mutter hatte versucht, ihr Kind emotional zu gebrauchen. Man spricht auch von “emotionalem Missbrauch”, “emotionaler Gewalt”, “Parentifizierung”. Ein Elternteil macht sich zum Kind, das Kind soll für den Elternteil sorgen. Andere Formen dieser Gewalt siehe “spätere Traumata “.

Übersicht: Phasen der Entwicklung des Willens

1. Bindung - bis 1 Jahr

a) Inhalt: unwillkürliche Bedürfnisäußerungen -

b) Charakterisierung und mögliche Probleme: duldet keinen Aufschub

2. Widerstand - 1 bis 1,5 Jahre

a) “Vorwille”, Drang

b) Zwanghaftes Beharren; Veränderungen wirken irritierend; “mal dies, mal das” - noch keine Entscheidungsfähigkeit!

3. Loslösung und Trotz - 1,5 bis 3 Jahre

a) Widerstand und Verneinung - dienen der Identitätsfindung! Sofern möglich: Aufbau einer Bindung zum Vater ermöglicht beginnende Selbstständigkeit

b) Elterliches “Nein” wird zunächst als Spiel verstanden, nicht als Grenze. Versucht die Mutter die Loslösung zu verhindern, kann dies zu Aggressivität oder zu Rückzug des Kindes führen.

4. Stabilisierung des Selbst - über 4 Jahre

a) Gewinnen von Selbstkompetenz, Selbstbewusstsein, Selbstregulationskraft im Blick auf die eigenen Gefühle, innerer (positiver) Stolz überwiegt Schamgefühle

b) Elterliche Strenge und Härte verstärken negative Symptome (Post, aaO 150ff)

Körperliche Berührung

Ein Trauma für ein Kind ist es auch, wenn es zu wenig oder lieblos berührt wird. Berührung ist für die gesunde körperliche und seelische Entwicklung wichtig, geradezu lebensnotwendig! Dr. Mario R. Fox (s.u.) sagt: “Ein Mangel an Berührungsreizen kann zu schweren Entwicklungsstörungen (auch zur Magersucht, Hauterkrankungen, Körperschemastörungen, auch psychische Störungen wie Angst und Depressionen, Asperger-Syndrom, etc.) führen.”

Traumata im zweiten und dritten Lebensjahr

Umgang mit dem Trotz

“Ein stark trotzendes Kind befindet sich in einem psychischen Ausnahmezustand! Es muss mit besonderer Vorsicht und allem Respekt vor seiner inneren Not behandelt werden.”

(aaO, 220)

Zu diesem Respekt gehört elterliche Versöhnungsbereitschaft, das grundsätzliche Annehmen des Kindes trotz seines Trotzes.

De-eskalation bedeutet, nicht mit Strenge auf einen Trotzanfall zu reagieren, sondern dem Kind Zeit zu geben und ihm evtl. Alternativangebote zu machen.

Lob und Kritik - Stolz und Scham

Angemessenes Lob fördert den Selbstwert des Kindes, es lernt, stolz auf sich zu sein. Dieser Stolz ist wichtig und gesund und nicht zu verwechseln mit Arroganz, die erst später entsteht und immer mit Abwertung der anderen verbunden ist.

“… eine sichere Bindung und gelungene Loslösung führen zu stolzen und selbstbewussten Kindern, eine unsichere Bindung und erschwerte, das heißt stark ertrotzte Loslösung eher zu schamvollen, selbstunsicheren.”

(aaO, 275)

Mehr zum Thema “Bindungstrauma”: hier

Tadel kann das Kind leicht beschämen!

“Beim Tadel sollte wegen der Verletzbarkeit des frühen Selbst immer nur die ‘Sache’, das heißt also die Handlung, kritisiert werden und nicht direkt das Kind selbst, da ein Kind negative Kommentare ‘in emotionaler Eigenregie’ regelmäßig in innere, selbstabwertende Gefühle umwandelt, manchmal unter Nichtbeachtung der eigenen Ertragensfähigkeit.”

(aaO, 260)

So entwickeln sich Einreden, die den Selbstwert schädigen, z.B. “Ich bin böse”.

Stolz führt zu

  • Innerer Ausgeglichenheit
  • Selbstschutz
  • Durchsetzungskraft, Selbstbewusstsein
  • Selbstregulationsfähigkeit

Scham führt zu

  • Unsicherheit, Abwehr von Kritik
  • Innerem Leidensdruck (nach aaO, 274)

Trauer

Wenn ein Kleinkind gestraft wird (mit Sich-Abwenden, Anschreien, Missachtung, Liebesentzug, Schlägen, Wegsperren), tritt neben die Scham die Trauer über das Abgelehntsein und die eigene Unterlegenheit. Trauern (Weinen) ist für das Kind heilsam, wenn es bereits über eine gewisse innere Stärke und Unabhängigkeit verfügt (aaO 273-5).

Fremdbetreuung

Fremde Umgebung und ein wenig gefestigtes Selbst erschweren den Übergang zur Betreuung durch eine Ersatzbezugsperson. Da der Moment der Trennung am schwersten ist, ist es am besten,

“wenn die Abschiedssituation so gestaltet ist dass es selbst die Mutter oder den Vater verlassen kann und nicht von ihm oder ihr verlassen wird… Wird es jedoch von einem der beiden in der passiven Lage zurückgelassen, begehrt es trotzig dagegen auf. Es leidet an dem Gefühl, zurückgestoßen zu sein (Trennungstrauma)”

(aaO, 304)

Das Argument, das Kind höre ja oft schnell auf zu weinen, zählt für Posth nicht, er bewertet dieses Vorgehen kritisch:

“Das derart in Bedrängnis geratene Kind muss sich zwangsläufig - über kurz oder lang - der Situation anpassen, dabei aber seine wahren Gefühle unterdrücken und schließlich verdrängen… Diese Überlebensstrategie von kleinen Kindern erlebt man auch in sehr viel dramatischeren Zusammenhängen, z.B. dem Verlust der Eltern im Krieg oder bei Katastrophen.”

Hier wird die Spaltung in Überlebens- und Traumaanteil beschrieben! Wenn Erziehende an die Unschädlichkeit solcher Trennungserfahrungen zu glauben, fallen sie einer Selbsttäuschung zum Opfer - zum Nachteil des Kindes. Das Kind erwirbt eine vermeidende Haltung mit innerem Rückzug (aaO, 305). Wenn es nicht viele positive Selbstanteile hat, glaubt es, der elterlichen Unterstützung nicht wert zu sein. Da das Kind die Schuld dafür wieder bei sich sucht, vertiefen sich seine Schamgefühle (aaO, 306).

Berühren und Berührt-Werden. Körperkontakt in Alltag und Klinik. Von Dr. Mario R. Fox, Lübeck - (PDF)

Bindung durch Berührung – Vortrag auf dem Attachment Parenting Kongress

Bindungsentwicklung und frühkindliche Bildung von Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll

HR2 Funkkolleg Psychologie - Frühe Bindungen 22.12.2008

Kann ein Mangel an Liebe tödlich sein? Inês Varela-Silva, Universität Loughborough

Mutterliebe: Das stärkste Gefühl entschlüsselt - Spiegel-Artikel

Bonding nach der Geburt - v.a. aus der Sicht von Hebammen

Ruppert, F. und Freund, Ch., Hyperaktivität und ADHS. Erkenntnisse über die Ursachen der Unruhe von Kindern aus zwei Aufstellungsseminaren, in: Praxis der Systemaufstellung. Beiträge zu Lösungen in Familien und Organisationen (1/2007),74-82 (Word-Dokument, 112 KiB)

Solter, Aletha , Warum Babys weinen : die Gefühle von Kleinkindern. - Die Gründerin von Aware Parenting erklärt, in welchen Fällen Babies - in Begleitung der Eltern - manchmal weinen müssen, um sich zu entlasten. Nicht nur für Eltern interessant, sondern auch für jene, die mit eigenen “Inneren Kindern” arbeiten möchten.

SWR-sendung “Vom Trauma zur Sucht. Wie sich Kriegserfahrungen auswirken” 30.11.2008 (PDF-dokument)